Mittwoch, 6. April 2011

Engel auf Endorphin

Der Mann setzt zum großen Sprung an. Über zwei Monate vor Release seines neuen Albums präsentiert Pop-Wunder Patrick Wolf im Berliner Lido alte und neue Hits vor einem euphorisierten Publikum. Tatsachenbericht eines triumphalen Konzertabends.

17202_largeSetting: Warteschlange vor dem Lido, ein paar Minuten vor dem Einlass. Eine junge Dame Marke Hipster-Mädchen verwickelt mich, meine Begleiterin und auch die ihr meines Wissens unbekannte Person neben sich ein kurzes Gespräch. Es geht Anfangs noch um Patrick Wolf. Die Musik. Ist ja klar. Die sei ja schon seit zwei Alben nicht mehr so gut und so. Und das neue wird sicher noch poppiger. Und irgendwie ist dieser Support-Act Rowdy Supperstar auch voll mies und die treten zusammen auf und machen alte Songs kaputt. Nein, alles ganz gruslig und so. Während sich der Dialog zusehens in einen Monolog verwandelt und die typischen klischee-behafteten Themenkomplexe London, Reisen, Underground, die Wichtigkeit des eigenen Seins abgrast, wende ich mich ab und muss mir mein eigenes Unwissen eingestehen. Nein, ich kenn mich nicht groß in der Patrick Wolf-Diskografie aus. Eine Handvoll Singles sind bei mir beliebt, das letzte Album „The Bachelor“ hab ich ein paar Mal gehört, meine Freundin ist begeisterte Verehrerin des guten Mannes und vor allem hat er mich vor zwei Jahren als Schlussakt auf dem Highfield Festival mehr als positiv überrascht. Während draußen die Toten Hosen ihre reaktionären Rockschlager zum Besten gaben, überzeugte Wolf im Zelt mit guter Laune, großen Entertainment-Qualitäten und einem bizarren Abba-Gedächtnis-Look inklusive goldenem Kleid und langer blonder Mähne. Ein Anblick, den man nie mehr vergisst.

Nun also 2011. Und die Ohren sind gespitzt, denn das neue Album „Lupercalia“ steht in den Startlöchern, wenngleich es erst irgendwann im Juni offiziell erscheint. Die beiden Vorab-Singles „Time Of My Life“ und „The City“ überzeugten mich allerdings als euphorische Pop-Hymnen sofort nach dem ersten Anhören und machen bei mir erstmals extrem Lust auf ein Wolf-Album. Vorerst gab es die neuen Songs an diesem Abend erstmal live. Die Pre-Album-Tour. Auch mal ein neues Konzept. Doch bevor wir zu Patrick Wolf kommen, müssen wir erstmal über Support Rowdy Superstar sprechen. Daran führt kein Weg vorbei. Okay, richtig beschreiben kann man es wohl nur dann, wenn man auch anwesend war. Und selbst dann wird es schwierig. Also, die Kategorisierung „Schwuler, schwarzer Experimental-Pop-Prinz, der wirkt, wie der uneheliche Sohn von Prince und Dizzee Rascal“ ist schon mal ein Anfang. Die Beats kommen aus dem Labtop, für den Rest sorgt Rowdy zusammen mit seinen beiden extrem powerhaften Background-Tänzerinnen. Der Mann mag noch nicht bekannt sein, beweist aber, dass man auch mit wenig Mitteln viel Wirkung erzeugen kann. Lichtshow, verschiedene Glitzeroutfits, Choreographien, Licht, Schatten, nackte Haut und dazu Songs, die irgendwo zwischen Bowie, Eurodisco und Lady Gaga liegen. Und selbst das trifft es nicht mal richtig. Die Show ist explosiv, witzig, energiegeladen, sexuell und überrascht mit erfrischenden Sounds. Nach anfänglicher Verstörtheit fliegen Rowdy schnell die Herzen des Publikums zu. So euphorischen Applaus bei einem Support-Act habe ich selten bis nie bei einem Konzert erlebt. Ich wünsche dem jungen Herren alles Gute auf dem Weg zum wirklichen Superstar, wenngleich es für den Massengeschmack sicher etwas zu eigen ist.

Nun aber ohne große Umschweife zu Herrn Wolf. Kaum zu glauben, dass der Mann erst 27 ist und schon fünf Alben veröffentlich hat. Der Begriff des Wunderkindes wurde in den vergangen Jahren ja dann auch von der Musikpresse durchaus gelegentlich in den Mund genommen. Verwunderlich ist das ja auch nicht, immerhin scheint Wolf fast jedes Instrument spielend zu beherrschen, so dass er an diesem Abend auch ganz locker zwischen Violine, Gitarre, Piano und Harfe hin und her wechselt. Und dazu diese Stimme. Makellos. Der Patrick Wolf im Jahr 2011 scheint voller Energie und guter Laune zu sein. Voll auf Endorphin, der gute. Das zeigen nicht nur die Vorabsingles, sondern auch das neue Material aus „Lupercalia“. Die düsteren Untertöne und die Zerrissenheit der früheren Tage scheint Wolf abgestreift zu haben, präsentiert sich auf dem Albumcover als strahlend weißer Engel. Wolf geht es gut, immerhin ist er jetzt ein verheirateter Mann. Oder eingetragener Lebenspartner, wie das halt politisch korrekt heißt. Wolf ist glücklich, verliebt und singt dann auch gern mal euphorisch davon, wie sehr er sich im neuen Heim zuhause fühlt. Der hymnenhafte Song „House“ soll dann auch gleich neue Single werden. Die gute Laune im Privatleben überträgt der Sänger gleich direkt auf die Bühne, wenngleich er sich an diesem Abend in feurigem Rot statt in unschuldigem Weiß präsentiert. Rot steht ja bekanntlich für Aggressivität und Leidenschaft. Gute Vorraussetzungen an die sich Wolf an diesem Abend auch hält. Seine Band und er präsentieren sich in bester Spiellaune, live gibt’s einen bunten Mix aus altbekannten und neuen Songs. Wenngleich ich da jetzt ja bekanntermaßen kein Fachmann bin, diese zu unterscheiden. Aber die Hits wie „Tristan“ oder „The Magic Position“ kommen natürlich gut an. Und neue Tracks wie der Kitsch-Walzer „The Days“, das elektropoppige „Together“, sowie das unglaublich eingängige „Bermondsey Street“ lassen einiges an Abwechslung erwarten. Wenngleich allerdings durchaus auffällt, dass die Songs neueren Datums ein wenig die Ecken und Kanten früherer Wolf-Nummern vermissen lassen. Wenn sogar mir das auffällt… Im Gegenzug zu Madamme „Anti-Sellout“ aus der Warteschlange sehe ich dabei allerdings kein wirkliches Problem. Musikalisch spiegelt die Harmoniesucht der Songs ja nur den aktuellen Gemütszustand des Komponisten wieder, zumal er einfach seit jeher gut da drin ist, von Episch bis Eingängig alle Sparten guter Musik zu bedienen. Auch an diesem Abend. Virtuoses an der Harfe trifft auf Tanzbares mit Synthesizer. Zackige Popsongs, große Streicher-Momente, intime Songwriter-Augenblicke und das ein oder andere kitschige 80er-Saxophon-Solo sind auch dabei. Hier bekommt der Zuschauer etwas für sein Eintrittsgeld, nämlich eine Bandbreite, die jeden Musikliebhaber glücklich machen sollte. Zumal die Qualität der Songs in der Regel nicht zur Diskussion stellt.

Und Wolf kann und will noch mehr. Das anfangs kritisierte „Zerstören“ alter Songs verkommt zum kurzweiligen Rap/Gesangs-Duett mit Rowdy Superstar und gibt der alten Nummer „Bloodbeat“ noch mal ordentlich Schwung. Dieser Mann bleibt nicht stehen. Mehr davon? Bitte sehr, Berlins Elektronik-Genius Alec Empire wird mal eben so zur Zugabe aus dem Hut gezaubert und zerstückelt anschließend die Single „Hard Times“ ordentlich. Wolf tanzt mittlerweile im weißen Overall, während Mr. Atari Teenage Riot wie ein Irrer an den Knöpfen dreht, auch beim anschließenden „Vulture“. Ja, auch für leichte Drum’n’Bass-Momente ist an diesem Abend Platz. Und für einen Gastgeber, der den Publikumskontakt nicht scheut. Zwei mal wandert Wolf durch die Menge, gibt Umarmungen und Handschläge und sammelt fleißig Schulterklopfer. Der Applaus an diesem Abend wird eh von Song zu Song lauter. Zum großen Finale mit „The City“ gibt es kein Halten mehr. Wolf dankt es mit schüchternem Lächeln, vielen „Danke scheeen“’s und diversen Berlin-Komplimenten. Selbst als deutscher Teilnehmer für den Eurovision Song Contest bietet er sich an. Eloquenter als Lena ist er sowieso. Und so hinterlässt Wolf das Publikum im Lido an diesem Abend Freude strahlend zurück. So muss und sollte ein Konzert sein. Große Freude, große Emotionen, jubelnde Menschen, sympathische Musiker. Das ist es in der Tat egal, wie alt du bist, ob Hete oder Homo, wie viel Facebook-Freunde du hast oder wo du deinen hippen Stoffbeutel gekauft hast… an diesem Abend hinterlassen Rowdy und Patrick mich und viele andere Menschen mit einem breiten Lächeln zurück und empfehlen sich für eine euphorische Zukunft. Bitte auch gern wieder auf den Bühnen dieser Republik. Wenn das Sellout sein soll, dann kauf ich gleich noch eine Platte extra.

Setlist:

01 Armistice
02 Time Of My Life
03 To The Lighthouse
04 Tristan
05 Accidents & Emergency
06 Godrevy Point
07 House
08 Bluebells
09 The Days
10 Who Will?
11 Together
12 Bermondsey Street
13 The Magic Position
14 Bloodbeat (ft. Rowdy Superstar)

15 Hard Times (Remix ft. Alec Empire)
16 Vulture
17 The City




PS: Das Foto stammt a) aus Köln und b) von der Intro-Homepage. Danke fürs Knipsen! Lest alle Intro. Und so weiter...
mistershears (Gast) - 7. Apr, 02:47

Perfekt formuliert und auf den Punkt gebracht! Dieser Abend war wirklich umwerfend gut, habe selten ein Konzert so freudestrahlend und verzaubert verlassen. Und die Hipster sollten sich von Mr Wolfs neuer unprätentiöser Lebensfreude eine dicke Scheibe abschneiden!

rhododendron - 9. Apr, 08:31

Danke

Auch wenn wir nicht bei Facebook sind, bekommst du dafür einen imaginären Klick auf den "Gefällt mir"-Button ;-)
Mike (Gast) - 11. Apr, 08:54

Fotos vom Abend ...


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